Gastbeitrag mit Ex-ESM-Chef Klaus Regling in Gabor Steingarts „The Pioneer“: Europa muss sich von den USA emanzipieren und massiv in die Verteidigung investieren. Der finanzielle Spielraum lässt sich schaffen.
Dieser Beitrag von Klaus Regling & Martin Schoeller ist zuerst bei The Pioneer erschienen (Link)
Die EU erinnert uns bisweilen an ein Kind. Es war großartig, sie auf die Welt kommen und wachsen zu sehen. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass sie erwachsen wird – und sich nicht länger auf den großen Bruder USA verlässt, der sie von Kindesbeinen an beschützt hat:
Angesichts des russischen Angriffskrieges und einer möglichen zweiten Amtszeit für Donald Trump ist es höchste Zeit für eine massive europaweite Aufrüstung. Das Sondervermögen für die Bundeswehr, das Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine angekündigt und auf den Weg gebracht hat, war ein wichtiger erster Schritt. Dabei darf es aber nicht bleiben.
Denn Putin wird nur dann von seinen imperialistischen Ambitionen abrücken, wenn er weiß, dass sich ein Angriff niemals lohnen kann. Europa muss deshalb jetzt im großen Stil in Verteidigung investieren. Das ist auch im Rahmen aktueller Schuldenregeln möglich – allerdings sollten ESG-Standards, die Investitionen in Rüstungsunternehmen und Verteidigungstechnologie erschweren, angepasst werden.
Europa ist hochgradig kreditwürdig
In aktuellen Debatten-Beiträgen stoßen wir immer wieder auf zwei leichtfertige und voreilige Annahmen. Erstens: Putin wird Europa schon nicht angreifen. Das haben viele vor dem Angriff auf die Ukraine auch gesagt – bis zuletzt. Die Annahme ist deshalb fahrlässig, und sie steht im Widerspruch zu den Einschätzungen zahlreicher Russland-Experten und Putin-Kenner.
Zweitens: Wir können uns kein breit angelegtes Rüstungsprogramm leisten. Das ist sehr kurzfristig gedacht. Die Prioritäten bei den Staatsausgaben können längerfristig natürlich geändert werden. Kurzfristig gesehen hat das Bundesverfassungsgericht den Weg gezeigt, wie über Sondervermögen zusätzliche Ausgaben finanziert werden können.
Außerdem haben wir während der Eurokrise mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und in der Corona-Krise mit dem „Next Generation EU-Programm“ gelernt, dass Europa als eigene Rechtseinheit sehr kreditwürdig ist. Das Rating Europas ist besser als das Rating der USA. Die Finanzmärkte würden einen weiteren Schritt zu mehr europäischen Anleihen begrüßen; dies würde auch die Entwicklung zur Kapitalmarktunion beschleunigen und die internationale Rolle des Euro stärken.
Zudem könnten mit der Entwicklung zu einer Verteidigungsunion militärische Beschaffungsprogramme in Europa sehr viel effizienter und kostengünstiger gemanagt werden.
Booster für Europas Technologie-Sektor
Darüber hinaus unterschätzen viele, dass Investitionen in Verteidigung positive gesamtwirtschaftliche Effekte haben und sogar einen Technologie-Boom auslösen können. „Es wäre nicht das erste Mal, dass Militärausgaben zu technischen Innovationen führen, die mehr Wachstum im zivilen Bereich auslösen“, schrieb Moritz Schularick jüngst in einem Gastbeitrag für das deutsche Magazin „Spiegel“.
Darin empfahl der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel der Bundesregierung, „kreditfinanziert in die Sicherheit unseres Landes zu investieren“. Von höheren Militärausgaben könnten „wichtige Impulse für das lahmende Wachstum in Deutschland und Europa ausgehen“.
Wir brauchen jetzt Mut statt Verzagtheit und dürfen Europa nicht länger schwachreden. Die USA haben 80 Jahre doppelt so viel ausgegeben für unsere gemeinsame Sicherheit, obwohl sie deutlich weniger Einwohner und eine nur wenig größere Wirtschaftskraft haben. Jetzt sind wir an der Reihe.
Unser Schicksal selbst in die Hand nehmen
Und wir dürfen nicht vergessen: Auch unsere geopolitischen Wettbewerber – allen voran China und Russland – steigern ihre Rüstungsausgaben deutlich. Insbesondere Peking unterstützt damit zugleich den Technologiesektor. Wir dürfen diesen Wettbewerb nicht verschlafen, wenn wir unser Schicksal in der neuen multipolaren Weltordnung weiter selbst gestalten wollen.
Zwei weitere Faktoren sind von zentraler Bedeutung: Wir müssen alles daran setzen, unsere Wirtschaft zu stärken. Die Geschichte des Kalten Krieges hat eindrucksvoll gezeigt, dass die ökonomische Kraft entscheidend ist, um in Systemwettbewerben zu bestehen. Besondere Bedeutung kommt hier der Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktes, insbesondere bei den Finanzdienstleistungen, dem Bürokratie-Abbau und der Energiepolitik zu.
Zudem gilt es, mehr privates Kapital für Zukunftsaufgaben zu mobilisieren. Dazu zählt auch die Aufrüstung, und deshalb ist es kontraproduktiv, dass die EU Investitionen in Verteidigungstechnologie als nicht-ethisch und nicht ESG-konform einstuft. Zumal sich die Frage aufdrängt: Was ist ethischer und verantwortungsbewusster als die Verteidigung von Freiheit und Demokratie?
Stehen wir uns also nicht länger selbst im Weg mit Dogmatik, Pessimismus und Regelungswut. Es geht ums Ganze: Eine wirtschaftlich und militärisch starke EU ist der einzige Garant für Frieden in Freiheit und Wohlstand.
Klaus Regling war von 2010 bis 2022 Chef der Euro-Rettungsschirm ESM und EFSF. Zuvor arbeitete er unter anderem als Generaldirektor für wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten bei der Europäischen Kommission, im Bundesfinanzministerium und beim IWF.
Martin A. Schoeller ist Familienunternehmer und engagiert sich für ein starkes Europa. Er gehört zu den Begründern der Münchner Europakonferenz und hat die Initiative „Frieden in Freiheit“ sowie das Africa First Network ins Leben gerufen.